Allerlei Mythen und Legenden ranken sich um die altorientalische Königin Semiramis. In antiken Schriften taucht sie auf - in griechischen, jüdischen und assyrischen - doch ob sie wirklich eine Königin war, ist nicht einmal eindeutig belegt. Manche Quellen weisen sie aus als die Gründerin der Stadt Babylon, andere wiederum berichten, dass sie nur durch Intrigen an die Macht kam. Mal ist sie die Tochter einer Göttin, mal ist sie menschlicher Abstammung - und daneben schreibt man ihr die wohl berühmteste Gartenanlage der Weltgeschichte zu, allerdings ohne einen wirklichen historischen Nachweis.

Kurzum: Das alles macht die antike Heldin zu einer der schillerndsten Figuren der Geschichte - einer Frau, der man ohne weiteres auch Affären oder gar Morde andichten kann. Und so wurde der Name Semiramis gewissermaßen zu einem unerschöpflichen Fundus für barocken Opernstoff; die Komponisten zwischen 1700 und 1800 - von Caldara bis Rossini - widmeten ihr die spannendsten musikalischen Dramen.

Allerdings gab es hier einen Haken: In der Barockzeit durften keine Frauen auf die Bühne. Doch ein Kunstgriff des genialen Librettisten Pietro Metastasio umging dieses Verbot; Semiramis trat einfach als Mann auf - sie hatte gewissermaßen die Hosen an, als sie die Regentschaft für ihren unmündigen Sohn übernahm - und das ist der Beginn einer komplizierten Maskerade. Niemand erscheint als derjenige, der er in Wirklichkeit ist - bis am Ende ein verflossener Liebhaber Semiramis auf die Schliche kommt.

Mehrere Komponisten haben sich auf dieses Verwirrspiel nach der Metastasio-Vorlage eingelassen: Georg Friedrich Händel, Niccoli Jommelli, Christoph Willibald Gluck und Ferdinando Bertoni schrieben Opern über "Semiramide reconosciuta" - die wiedererkannte Semiramis - und die italienische Mezzosopranistin Anna Bonitatibus hat diesen Schatz aus den Notenarchiven gehoben, hat aus den vergessenen Dramen um die antike Heldin einen unterhaltsamen Abend zusammengestellt.

Mit diesem Programm gastierte sie jetzt im Festspielhaus Baden-Baden; ihr zu Seite das fabelhafte Collegium 1704 unter Vaclav Luks - und man hätte der Sängerin wesentlich mehr Zuhörer gewünscht. Da denkt man an Abende, die sofort ausverkauft sind, wenn sich beispielsweise Cecilia Bartoli solcher Entdeckungen annimmt.

Die wenigen Gäste, die dort waren, kamen jedoch in einen bemerkenswerten Genuss.

Freilich: Diesem feinen und schlanken Mezzosopran muss man schon sehr genau zuhören, will man diese Stimme in allen Nuancen erfassen. Beeindruckend sind die straffen Linien und der fokussierte Ton; in diesem weichen Fluss singt sie pochende Koloraturen und verzweifelte Klagen, und dabei riskiert sie viel, führt den Ton bis an die Grenze des Wahrnehmbaren - dort, wo die Stimme gerade noch anspricht.

Gleich zweimal steht die Arie "Fuggi dagl' occhi miei" auf dem Programm, einmal von Händel, einmal von Gluck. Hier wütet Semiramis, weist ihren treulosen Liebhaber mit entschlossenen Gesten zurück.

Großartig sind die abrupten Stimmungswechsel: Erst ist alles furios nach außen gerichtet, dann zieht sich Anna Bonitatibus sofort in die intime Klage, oder auch: in ihr Selbstmitleid zurück; sie seufzt, leidet. Das Orchester geht jede Bewegung mit. Filigran wird hier alles nach freigelegt - fein laufende Figuren, plötzliche Umschwünge, schöne Dialoge mit der Sängerin. Selbst im außersten Pianissimo dünnt der Klang nicht aus, sondern behält seine Leuchtkraft.

Die wohl bekannteste "Semiramis" hat Gioacchino Rossini geschrieben. In der Cavatine "Bel raggio lusinghier" keimt nun endlich Hoffnung auf - hier klingt alles nach Triumph, Überwindung. Doch der Abend endet - ganz untypisch - in demütiger Andacht. Manuel Garcias "Gia il perfido discese ..." ist ein leises Gebet einer reuevollen Königsmörderin, die erst noch diesen Makel beseitigen und um Gnade bitten muss, bevor endlich der Weg frei ist für das Happy End.

Großer Jubel für eine großartige Künstlerin, die sich mit zwei Zugaben verabschiedet.